Leseprobe
Es ist Freitagnachmittag. Ich sitze in meinem Büro und bearbeite die letzten Dinge
vor dem Feierabend. Spätestens um halb sechs möchte ich heute Schluss machen.
Das Telefon klingelt.
»Guten Tag, Thomas, hier ist Christoph Weinhardt.«
Es gibt Menschen, von denen ich einfach annehme, dass sie mich niemals am Arbeitsplatz anrufen.
Christoph gehört dazu. Ich bin daher überrascht und denke, dass etwas passiert
sein muss. Er fährt fort:
»Ich wollte mal hören, wie es bei euch daheim geht. Wohnst du überhaupt noch im
Kalkweg?«
»Ja sicher«, ist meine Antwort, »Ute und ich sind übereingekommen, dass ich für ein
bis zwei Monate ausziehen werde. Dann hat jeder von uns Gelegenheit, für sich
allein darüber nachzudenken, ob er die Ehe fortsetzen will oder nicht. Zunächst
bin ich nur in unser Gästezimmer gezogen. Ich werde mich jetzt nach einer
anderen Bleibe umschauen.«
Darauf fragt er: »Und wie lebt ihr zu Hause?«
Ich werde unruhig, denn so kenne ich Christoph nicht. Vor vier Jahren habe ich ihn
als Trainer in einer beruflichen Fortbildung kennengelernt. Ich weiß, dass er
als Gesprächstherapeut für gewöhnlich keine Fragen stellt. Und jetzt reiht er
eine Frage an die andere.
»Ich glaube, ich verstehe deine Frage nicht«, ist meine Reaktion.
»Ihr esst also gemeinsam und ihr verbringt die übrige Zeit gemeinsam?«
»Ja!«
»Und dir ist an Ute auch keine Veränderung aufgefallen?«
»Nein ‑ nun sag' mir doch bitte mal, was los ist.«
»Dann weißt du auch nicht, dass deine Frau hinter deinem Rücken erzählt, du hättest
Anna sexuell missbraucht.«
»Ute behauptet, ich habe Anna missbraucht?« Ich bin fassungslos.
»Ja! Sie hat gestern Beate angerufen und gesagt: "Thomas hat Anna sexuell
missbraucht. Das hat angefangen, als ich im Frühjahr zur Kur war. Kennst du
oder kennt Christoph einen Kindertherapeuten? Ich muss mit Anna zum
Kindertherapeuten." Sie hat fast eine Stunde mit Beate telefoniert. Sie
sagte auch, dass sie mit Anna zum Frauenarzt will und noch nicht weiß, wie sie
dich aus dem Haus kriegt; du wollest offenbar nicht ausziehen. Daher will sie
dich von der Polizei aus dem Haus holen lassen. Das alles hat sie im Beisein
der Kinder erzählt. Beate sagt, dass sie die Kinder die ganze Zeit im
Hintergrund gehört hat.«
Ich bin sprachlos ‑ wenn sie schon solche Ungeheuerlichkeiten verbreitet,
dann soll sie doch die Kinder heraushalten.
Bis zu diesem Moment war ich davon ausgegangen, dass Ute und ich darin
übereinstimmen, im Falle einer Trennung, die Kinder aus unserem Streit
herauszuhalten. Sie brauchen in dieser Situation Zuwendung und das Gefühl, dass
nicht sie verlassen werden. Warum tut sie so etwas? Ich weiß nicht, ob ich laut
gedacht habe oder Christoph meine Frage erraten hat, er sagt:
»Ich nehme an, dass sie sich einen Vorteil für das Sorge‑ oder Umgangsrecht
erhofft. Wenn du das getan hast, dann weiß ich nicht, warum sie nicht mit dir
darüber spricht und wieso sie es im Beisein der Kinder diskutiert.«
Es stört mich sehr, dass er offenbar nicht ausschließt, dass ich Anna missbraucht
haben könnte, aber mir ist sofort klar, dass er es nicht ausschließen kann. Wie
sollte er? Ich erwidere nichts auf diese Äußerung ‑ ich weine. Dicke
Tränen laufen über meine Wangen.
»Was wirst du jetzt tun?« fragt Christoph.
»Ich weiß nicht, ich denke, ich sollte so schnell wie möglich nach Holland fahren
und mich informieren, ob ich als Holländer nach niederländischem Recht
geschieden werden kann. «Christoph meint: »Den Weg zum Kindertherapeuten
solltest du unbedingt unterstützen. Ein Kindertherapeut ist in der Lage
aufzudecken, wenn so etwas in ein Kind hinein gepflanzt worden ist.«
Ich bin verwirrt. Ich weiß im Moment nur, dass es nun an der Zeit ist, mich von Ute
zu trennen. Ich will keine Minute länger mit ihr verheiratet sein. Anna ist
gerade sieben Jahre alt. Der Gedanke, sie in irgendeiner Weise mit meiner
Sexualität zu konfrontieren, ist mir nie gekommen. Christoph unterbricht meine
Gedanken, er sagt:
»Ich denke, Ute reagiert so, weil du ihren Vorschlag auszuziehen angenommen hast.
Sie hat erkannt, dass sie keinen Einfluss mehr auf dich hat, und ihre Reaktion
ist, dass sie sich sagt: "Wenn ich ihn nicht haben kann, dann soll Thomas
nichts haben, vor allem nicht die Kinder".«
»Mhm«, sage ich zustimmend.
»Das ist doch prima«, fährt er fort, »damit hast du doch eine echte Chance, deine
Kinder zu bekommen.«
Er weiß, dass ich seit drei Monaten nur noch bei Ute bin, weil ich die Kinder
nicht verlassen kann.
»Wie kommst du darauf?« will ich wissen.
»Nun ‑ du hast mir vor einiger Zeit erklärt, dass kleine Kinder grundsätzlich
der Mutter zugesprochen werden, wenn nicht sachliche Gründe dagegen sprechen.
Wenn Ute im Beisein der Kinder von sexuellem Missbrauch redet, dann halte ich
das für eine erheblich psychische Gefährdung der Kinder.«
»Ich werde einen Anwalt danach fragen«, sage ich. Ich bin derart durcheinander, dass
ich kaum einen klaren Gedanken fassen kann. Christoph merkt das und beendet
unser Gespräch.
Sofort rufe ich Freunde in Holland an und bitte sie, für mich einen Termin bei einem
Rechtsanwalt zu vereinbaren. Keine fünf Minuten später ruft mich Ellen zurück
und bestätigt: Montag früh, elf Uhr. Was jetzt? Nach Hause will ich nicht. Ich
bin ratlos. Ich kann Ute nicht mehr unvoreingenommen gegenüber treten und ich
will sie nicht wissen lassen, dass ich informiert bin. Ich möchte zuerst einen
Anwalt sprechen. Was ist mit Anna? Wie soll ich mit ihr umgehen, wenn sie so
von Ute präpariert wird? Wie habe ich sie in den letzten Tagen erlebt? Zweimal
flüsterte Ute ihr etwas zu. Aber Anna war wie immer. Yvonne, unsere jüngste
Tochter, ist etwas zurückhaltend. Wenn ich auf sie zugehe, ist sie aber genauso
ausgelassen wie sonst, und auch an Maria ist mir nichts Ungewöhnliches
aufgefallen. Selbst wenn Ute mich jetzt hasst und mir alle Schuld an unserer
Trennung gibt, muss sie doch auch an die Kinder denken. Warum macht sie mich
vor den Kindern schlecht? Welche Folgen wird das für die Kinder haben? Was kann
ich dagegen tun? Wo ist die Grenze? ‑ Was kann ein Elternteil dem anderen
bewusst antun? Ich kann es nicht fassen, ich weine.
Eine Viertelstunde später habe ich mich einigermaßen beruhigt. Ich nehme mich
zusammen und rufe Ute an: »Ich bin ein paar Tage unterwegs. Rechne nicht vor
Dienstag mit mir«, das ist alles was ich herausbringe. Zu meiner großen
Erleichterung gibt es keine Diskussion. Bevor ich das Büro verlasse, rufe ich
meine Cousine an und frage, ob ich bei ihr übernachten kann. Dann gehe ich zum
Parkplatz. Im Auto nehme ich meinen Ehering vom Finger. Es ist das erste Mal,
dass ich ihn unterwegs abnehme. Eine Weile betrachte ich die Gravur, und ich
erinnere mich, wie wir ihn gekauft haben. Das war vor acht Jahren. Wir waren
beide siebenundzwanzig. Ich hatte soeben meine erste Stelle als Diplomingenieur
angetreten, Ute hatte ihr zweites Staatsexamen als Lehrerin absolviert und
arbeitete nun einige Monate als Schwangerschaftsvertretung. Dann war Anna
unterwegs, und fortan widmete sich Ute ausschließlich unseren Kindern. Ich
nehme den Ring und lege ihn in das Handschuhfach. Normalerweise hätte ich ihn
bis zur Scheidung getragen, jetzt will ich nicht mehr.
Stunden später, auf der Autobahn, wird mir zum ersten Mal wirklich bewusst, was sie
mir vorwirft. Bis zu diesem Moment war die Behauptung irgendwie an mir vorbei
gegangen. Es war die Verleumdung vor den Kindern, die mir so nahe ging. Jetzt
plötzlich erkenne ich, wie ungeheuer schmutzig das ist. Sie erzählt, dass sie
mit Anna zum Frauenarzt will. Das bedeutet ja wohl, dass sie mir
Geschlechtsverkehr mit meiner Tochter unterstellt. Mir schießen Tränen in die
Augen und mir wird schlagartig schlecht. Blindlings lenke ich auf die
Standspur, bremse viel zu abrupt, so dass ich den Motor abwürge und schluchze.
Noch nie in meinem Leben habe ich so geweint.
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